Ein eindringlicher Aufsatz der namibischen Autorin Erika von Wietersheim ist vor kurzem im Band „Koloniale Vergangenheit – postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken“ von Kristin Platt (Hrsg.) und Henning Melber (Autor) erschienen. Frau von Wietersheim legt dar, dass in Namibia die Einführung des Begriffs „Genozid“ bisher tatsächlich nicht zur Versöhnung geführt, sondern bestehende Gräben vertieft habe. Namibia zahle einen hohen Preis für die Genozid-Debatte – es entsteht ein immer stärkeres Gefühl von „denen“ und „uns“, es verfestigen sich Gruppenidentitäten – und der soziale und poltische Frieden sei bedroht. Umso wichtiger ist es der Autorin, einen gemeinsamen Weg für ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl zu finden.
Der Band stellt verschiedenen Perspektiven und unterschiedliche Stimmen aus Politik, Zivilgesellschaft und Kultur in Deutschland vor und lässt auch die Sicht der Betroffenen in Namibia zu Wort kommen. Lesen Sie unten den kompletten Beitrag „Im Schatten des Genozids“ von Frau von Wietersheim.
Aus dem Klappentext:
Mitte Mai 2021 wurde von den Sonderbeauftragten Deutschlands und Namibias als Ergebnis von neun Verhandlungsrunden seit Ende 2015 ein »Versöhnungsabkommen« paraphiert. Als bislang einzigartigen Schritt einer ehemaligen Kolonialmacht erkennt dieses Abkommen den in Südwestafrika verübten Völkermord politisch und moralisch an. Die vereinbarte »Geste der Anerkennung« wird seither in beiden Ländern kontrovers diskutiert.
Vor diesem Hintergrund stellt dieser Band die verschiedenen Perspektiven vor und lässt dabei unterschiedliche Stimmen aus Politik, Zivilgesellschaft und Kultur in Deutschland und die Sicht der Betroffenen in Namibia zu Wort kommen. Damit soll die Bandbreite der Meinungen und Versuche zur Bearbeitung der kolonialen Hinterlassenschaften am Beispiel des deutsch-namibischen Beziehungsgeflechts, aber auch im Umgang mit der Erinnerung an Massengewalt und Genozid in der Geschichte insgesamt dokumentiert werden.
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Im Schatten des Genozids
Gedanken einer deutschsprachigen Namibierin – von Erika von Wietersheim
Ich bin eine Namibierin mit deutschem Migrationshintergrund. Meine Urgroßmutter mütterlicherseits wanderte 1893 aus Schlesien ins südliche Afrika aus, mein Vater 1935 aus Sachsen. Ich bin in Namibia geboren und aufgewachsen, meine Kinder leben hier sowie meine Enkelkinder, sie sind Afrikaner in der fünften Generation. Namibia ist unser Heimatland, wir haben kein anderes.
Weniger als ein Prozent aller namibischen Einwohner ist deutschsprachig. Einige leben schon seit Generationen in diesem Land, sind Nachfahren der Siedler, Missionare und Schutztruppensoldaten, die vor und während der Kolonialzeit nach Südwestafrika eingewandert sind, andere kamen nach den Weltkriegen oder noch später ins Land. Alle lieben Namibia auf ihre Weise, fühlen sich diesem Land stark verbunden.
So wie einem als Deutscher in Israel, als Amerikaner in Vietnam oder als Japaner in Korea die Last seiner Nation ungefragt aufgebürdet wird, so tragen die Deutschsprachigen in Namibia, ob sie es wollen oder nicht, eine dreifache Last der Geschichte: an der Geschichte des deutschen Kolonialismus in ihrem Heimatland, an der anschließenden Geschichte der Apartheid, die bis zur Unabhängigkeit Namibias 1990 das Leben aller Namibier bestimmt hat und – als Namibier mit deutschen Wurzeln – auch an der deutschen Geschichte des Nationalsozialismus. Es sind Lasten, die im Augenblick, da Deutschland und Namibia um ein sogenanntes Versöhnungsabkommen ringen, nicht leichter, sondern schwerer zu tragen sind.
Keine Aufarbeitung der Vergangenheit
Im Gegensatz zu Deutschland gab es in Namibia nie den Versuch die Vergangenheit aufzuarbeiten. Als Namibia 1990 unabhängig wurde, beschloss die neu gewählte Regierung die Vergangenheit ruhen zu lassen. Das schloss den Umgang mit der Apartheid, der kolonialen Vergangenheit und den Menschenrechtsverletzungen während des Befreiungskriegs ein. Man sprach von „nationaler Versöhnung“, sie wurde zum Schlagwort der nächsten Jahre. Und zum großen Teil mit Erfolg. Tribalismus und Rassismus sollten nicht mehr Thema sein, zu lange hatte die südafrikanische Apartheidsregierung nach dem bewährten Prinzip des Divide et Impera die ethnischen Gruppen in Namibia in verschiedenen ‚Homelands‘ geographisch voneinander getrennt und somit politisch geschwächt. Nach der lang erkämpften Unabhängigkeit im Jahr 1990 wollte man dieser Trennung ein Ende setzen, selbst von Schwarz und Weiß wollte man nicht mehr sprechen und führte Begriffe wie ‚historisch benachteiligt‘ für alle schwarzen Namibier ein.
Es gab keine Truth and Reconciliation Commission wie in Südafrika und erst recht keine gründliche Aufarbeitung der Geschichte wie nach dem Nationalsozialismus in Deutschland. Über Jahrzehnte gab es im Nachkriegsdeutschland einen gezielten „Entnazifizierungsprozess“ mit zahlreichen Gerichtsprozessen und Verurteilungen, Filmen, Ausstellungen, Büchern, Gedenkstätten und neu geschriebene Geschichtslehrplänen in den Schulen. Der deutsche Kolonialismus wurde zwar auch viele Jahre lang ignoriert und ist auch noch immer ein eher wenig beachtetes historisches Thema, denn nach dem Zweiten Weltkrieg stand das Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung wie ein riesiger Berg vor den Augen der Deutschen, der den Blick weiter zurück in die deutsche
Vergangenheit verhinderte. Doch ab etwa 2004, als sich der Kolonialkrieg gegen die Nama und Herero im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika zum 100. Mal jährte, wurden die Verbrechen gegen die kolonialisierten Gruppen sichtbarer und es entstand die Forderung, sich den Verbrechen des Kolonialismus zu stellen. Die Erfahrungen mit der Aufarbeitung des Holocausts war sicher ausschlaggebend dafür, dass Deutschland heute als erste frühere Kolonialmacht gegenüber einer ehemaligen Kolonie einen Völkermord eingesteht und bereit ist sich offiziell zu entschuldigen und, wenn auch keine Reparationen, so doch Wiedergutmachungszahlungen zu leisten.
Die deutschsprachigen Namibier hatten keinen Teil an der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, wie sie in Deutschland stattfand, denn sie lebten weit entfernt in ihrem neuen Heimatland im südlichen Afrika in einer Zeit als es weder Fernsehen noch internationale Kommunikation gab. Noch weniger erlebten sie eine Aufarbeitung der Vergangenheit nach Ende der deutschen Kolonialzeit. Als die Südafrikaner nach dem Ersten Weltkrieg die Verwaltung Südwestafrikas übernahmen, genoss die deutschsprachige Bevölkerung schon bald alle Privilegien als Weiße in einem rassistischen Apartheidstaat. Nach der Unabhängigkeit profitierten sie von der „nationalen Versöhnung“ und konnten weiterhin friedlich und wirtschaftlich erfolgreich in Namibia leben. Und nachdem Präsident Pohamba sie zu einem von vielen „Namibian tribes“ in Namibia erklärt hatte, fühlten sie sich akzeptiert als ein Teil einer namibischen Regenbogennation.
Bis vor kurzem wussten die deutschsprachigen Namibier daher nur wenig über die deutsche Kolonialzeit in ihrem Heimatland. In den Lehrplänen der Schulen war sie nur mit wenigen Sätzen erwähnt worden und das, was sie wussten, hatten sie von ihren Vorfahren erfahren. Sie sahen die deutsche Kolonialzeit meist als eine Zeit des Aufbaus des Landes und rechtfertigten den militärischen Kampf gegen die Herero und Nama als eine Reaktion auf deren „Aufstand“ und die Ermordung weißer Farmer.
Doch im kollektiven Gedächtnis der Herero und Nama blieb die dunkle Vergangenheit über all die Jahre präsent. Wie ein nie gelöschtes Feuer schwelte die Kolonialgeschichte in ihren Köpfen, Herzen und Traditionen weiter, wenn sie täglich sehen mussten, wie weiße Farmer auf ihrem ehemaligen Farmland gut lebten, während sie selbst in Armut nur an den Rändern ihrer ehemaligen Gebiete existieren konnten.
Eine neue Situation
Als Namibia und Deutschland ab 2015 mit bilateralen Verhandlungen begannen, um ein Versöhnungsabkommen zu erreichen, entstand eine neue Situation. Die Kolonialzeit wurde von Jahr zu Jahr intensiver diskutiert und als das Abkommen schließlich im Mai 2021 dem namibischen Parlament vorgelegt wurde, war sie präsent wie nie zuvor.
Ob sie wollten oder nicht, die deutschsprachigen Namibier waren nun gezwungen, sich mit der deutschen Kolonialzeit in Namibia auseinanderzusetzen. Das Abkommen selbst zu akzeptieren, fiel ihnen nicht schwer, denn sie waren nicht direkt davon betroffen und konnten letztendlich als namibische Bürger nur davon profitieren, wenn die Bundesrepublik ihr Heimatland über die nächsten 30 Jahre, zusätzlich zu beträchtlichen Entwicklungsgeldern, mit hohen Summen unterstützen würde. Aber es fiel vielen schwer, angesichts der Informationsflut, die nun über alle Medien bis in den letzten Winkel Namibias drang, zu realisieren, dass die Kolonialzeit in Südwestafrika für die Mehrheit der damaligen Bewohner eine Zeit des Terrors und des Schreckens war und dass der sogenannte Kolonialkrieg nach der Definition der UN-Konvention sogar als Genozid bezeichnet wurde.
Der deutsche Historiker Joachim Zeller, zitiert von Afrikakorrespondent Bartholomäus Grill, erklärt richtig: Der Vorwurf des Völkermords verletze das Selbstbild der Namibia-Deutschen. „Sie sehen ihre Vorfahren als Pioniere, die einst eine Terra nullius übernommen haben, ein Land, das angeblich niemandem gehörte. Sie sind stolz auf die Zivilisationsleistungen ihrer Großväter und Großmütter, auf die Städte, Straßen, Eisenbahntrassen, Bergwerke, Dämme, Schulen, Krankenhäuser und Kirchen, die sie gebaut haben“.1.
Letztendlich musste und muss deswegen auch bei den Nachfahren der deutschen Siedler im heutigen Namibia ein Zustand überwunden werden, der dem ähnlich ist, den man in Deutschland nach der Nazi-Zeit fand: eine langanhaltende Abwehrhaltung gegenüber Mitschuld an den Verbrechen der Nazi-Zeit und den Unwillen, deren Opfer anzuerkennen. Auch in Deutschland benötigte es mehrere Generationen, um zu begreifen, dass sie auch als Nachfahren akzeptieren mussten, dass sie Verantwortung für die entsetzliche und einmalige deutschen Geschichte des Holocausts dauerhaft tragen müssen.
Die Erfahrung, dass der Begriff „Genozid“ gerade in den letzten Monaten immer leichtfertiger und unschärfer in Namibia gebraucht wird, auf immer mehr Verbrechen angewandt und von immer mehr Gruppen reklamiert wird, trägt allerdings dazu bei, diesen Begriff nur zögerlich oder gar nicht zu akzeptieren. Damit wiederholt sich, was auch in Deutschland geschah, als der Zwang zur Verarbeitung der Nazi-Vergangenheit für viele als „zu viel“ empfunden wurde. Kritik kam von Politologen und Schriftstellern, wie zum Beispiel Martin Walser, der sagte: „Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen“.2 Diese Überlegungen sollen nichts entschuldigen oder rechtfertigen; sie zeigen jedoch, dass die Aufarbeitung der Schuld sowohl in Deutschland als auch in Namibia schwierig und langwierig war und ist und es gerade deshalb eher Hilfestellung und Verständnis geben sollte anstatt Überheblichkeit oder Häme, wie man sie oft in Berichten deutscher Historiker und Journalisten findet.
Eine neue Gesprächsbereitschaft
Dass sich gerade in dieser Zeit (2021) aus zwei Gesprächskreisen das Forum Deutschsprachiger Namibier gegründet hat, ist vielleicht kein Zufall. Dieses Forum hat ausdrücklich nicht zum Ziel, vornehmlich die Interessen der Deutschsprachigen zu vertreten, sondern unter anderem dem Aufruf aus Regierungskreisen zu folgen, sich einzubringen, ins Gespräch mit anderen zu treten und einen aktiven Beitrag zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung des Landes zu leisten. Eine Ausgangsposition für das Engagement des Forums ist die strukturbedingte Ungleichheit. „Namibia ist eines der Länder mit den größten Einkommensgefällen. Als deutschsprachige Namibier haben wir eine besondere Verantwortung, uns diesem Problem zu stellen“, sagte der Vorsitzende des Forums, Harald Hecht, in einem Interview mit ntv.3„Statistiken bescheinigen uns den größten materiellen Wohlstand und die höchste Lebensqualität. Wir müssen uns nun fragen: Was können wir tun, um das Einkommensgefälle abzubauen?“4
Mit dieser Haltung ist eine zukunftsorientierte Aufarbeitung der Vergangenheit von Seiten der deutschsprachigen Gemeinschaft zumindest im Ansatz möglich. Auch wenn das Forum nicht repräsentativ für die diverse deutschsprachige Gemeinschaft ist, hat es sich schon mit den unterschiedlichen Gruppierungen der Herero und Nama getroffen und sowohl mit denen gesprochen, die das bilaterale deutsch-namibische Abkommen mehr oder weniger akzeptieren und bei den Verhandlungen vertreten waren als auch mit denen, die das Abkommen vehement und radikal ablehnen, da es unter anderem Reparationszahlungen ausschließt; sie fordern trilaterale Gespräche, die die Herero- und Namabehörden als gleichberechtigten Partner einschließen.
Diese Gespräche sind wichtig, um Vertrauen zu schaffen. Man dürfe die offenen Wunden des Völkermords nicht ignorieren, sagte Harald Hecht, denn sie beeinflussen einen Versöhnungsprozess zwischen den Bevölkerungsgruppen und damit das Leben und den Frieden in Namibia. „Ein Anfang wäre der offene Dialog – wir hören gern zu, wollen aber auch gehört werden. Wir müssen dringend lernen, uns gegenseitig an die Hand zu nehmen und geschlossen im Sinne Namibias zu handeln“.5
Rückkehr zu trennendem Gruppenbewusstsein
Doch das sogenannte Versöhnungsabkommen zwischen Deutschland und Namibia, das nach langen Verhandlungen den Regierungen Namibias und Deutschlands zur Ratifizierung vorliegt, hat, zumindest im Augenblick, zum Gegenteil von Versöhnung geführt. Noch nie wurde die Bundesrepublik Deutschland in Namibia so beschimpft, beleidigt und abgelehnt wie seit diesem Abkommen, vor allem von den Oppositionsparteien im namibischen Parlament und in den sozialen Medien; es sei lächerlich, rassistisch, menschenverachtend und sogar eine Fortsetzung des Genozids. Und trotz diverser direkter Gespräche zwischen Deutschsprachigen, Herero und Nama wurden die Deutschsprachigen in Namibia noch nie so eindeutig bedroht, gewarnt oder zumindest als eine gesonderte Gruppe gesehen, der das Recht abgesprochen wird, hier zu leben, Land zu besitzen und wirtschaftlich erfolgreich zu sein.
Es gibt laute Stimmen der Herero und Nama, die die Rückgabe ihres von der Kolonialregierung enteigneten Ahnenlandes fordern: „Wenn die Verhandlungen in unserem Sinn scheitern, dann holen wir uns das, was uns zusteht, von den deutschsprachigen Namibiern – zur Not gewaltsam“.6 Dies und ähnliche Drohungen schüren Angst und Aggression. Dabei gehörten, so die verstorbene Historikerin Brigitte Lau, gegen Ende der Kolonialzeit (1914) deutschen Siedlern nur zwanzig Prozent der Farmen, die zur Zeit der Unabhängigkeit in den Händen von Weißen waren.7 Der Rest wurde über die nächsten Jahrzehnte von der südafrikanischen Besatzungsmacht an arme weiße Südafrikaner und an weiße ehemalige Soldaten der Union Südafrika vergeben. Obwohl es keine genauen Statistiken gibt, gehört heute von den 4500 kommerziellen Farmen, die noch in weißer Hand sind, der kleinere Teil deutschsprachigen Farmern.
Anstatt die deutschsprachigen Namibier als namibische Bürger wie alle anderen der dreizehn Bevölkerungsgruppen des Landes als namibische Staatsbürger zu akzeptieren, sieht man sie nur noch als Nutznießer der Folgen des Kolonialismus. Dies wurde besonders deutlich, als sich der namibische Landwirtschaftsminister Calle Schlettwein im Oktober zu dem Abkommen im Parlament äußerte. Er ist namibischer Staatsbürger, gewählter Abgeordneter, hatte sich schon lange vor der Unabhängigkeit der SWAPO angeschlossen und für die namibische Unabhängigkeit gekämpft, doch das zählte alles nicht. Von den Abgeordneten der Opposition wurde er als Handlanger Deutschlands und als Rassist beschimpft und in den Kommentaren auf Facebook seine namibische Staatsbürgerschaft geschmälert als „citizenship by colonization“.8
Dass moderne Völkerrecht
Aber es geht nicht nur um die Deutschsprachigen. In Namibia gab es auch seit der Unabhängigkeit noch immer tribalistische Tendenzen unter der schwarzen Bevölkerung, auch weil die Mehrheit der regierende SWAPO aus Ovambo und die Minderheit der Oppositionsparteien aus Herero, Nama, Damara und anderen Gruppierungen besteht. Dass diese Tendenzen sich in den letzten Jahren verstärkt haben, lag auch an zahlreichen Fehlern der regierenden Partei. Doch seit der Präsentation des Genozid-Abkommens vor dem namibischen Parlament ist Namibia ein gespaltenes Land wie nie zuvor und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe spielt plötzlich bei jeder Stellungnahme eine entscheidende Rolle – im Parlament, in den zahlreichen sozialen Medien, in der Zeitung und in Gesprächen.
Der Begriff Genozid steht dabei im Zentrum. In seinem Buch „Rückkehr nach Lemberg“9stößt der Autor und Jurist Philippe Sands bei seinen Familienrecherchen auf die beiden Männer, die das moderne Völkerrecht prägten: Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin. Sie waren beide Juristen und konzipierten nebeneinander, und zum Teil gegeneinander, während der Nürnberger Prozesse die Begriffe „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Genozid“. Obwohl in den Nürnberger Prozessen über die Nazi-Verbrechen alle Angeklagten auf der Basis der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt wurden, gewann der Begriff „Genozid“, der sich auf den Schutz von Gruppen im Gegensatz zum Schutz einzelner Individuen bezieht, mit der Zeit größere Bedeutung. Lauterpacht kritisierte den Begriff Genozid, denn er fürchtete, dass die Betonung des Genozids eine „latente Gruppenmentalität stärken, möglicherweise das Gefühl von wir und die anderen verfestigen und eine Gruppe gegen die andere ausspielen könnte.“10 Der Jurist Sands schreibt dazu: „Der Zwang, den Vorsatz zu beweisen, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, wie es die Genozidkonvention verlangt, [kann] unglückliche psychologische Folgen haben. Er fördert das Solidaritätsgefühl unter den Mitgliedern der Opfergruppe, während er negative Gefühle gegenüber der Tätergruppe verstärkt. Der Begriff ‚Genozid‘ mit seiner Konzentration auf die Gruppe hat die Tendenz ein Gefühl von ‚denen‘ und ‚uns‘ zu steigern, verfestigt Gefühle der Gruppenidentität und kann so unabsichtlich genau die Zustände entstehen lassen, die er bekämpfen will. Mit dem Ausspielen einer Gruppe gegen die andere verringert man die Wahrscheinlichkeit einer Versöhnung“.11
In Namibia hat die Einführung des Begriffs „Genozid“ bisher tatsächlich nicht zur Versöhnung, geführt, sondern bestehende Gräben vertieft. Ein Teil der Parlamentarier und Namibier im Allgemeinen, darunter auch Vertreter von Nama und Herero, sehen den Kolonialkrieg durchaus als eine gesamtnamibische Angelegenheit. In der namibischen Tageszeitung The Namibian vom 8. Oktober 2021 sprechen die Medienkommentatoren Shaun Whittaker and Harry Boesak bewusst nicht von tribes, sondern von den African people of Namibia und sagen: „Es war nie ein reiner Herero-Deutscher Krieg, sondern eine regionale Realität und die Vorstellung von homogenen sozialen Gruppen war in Wirklichkeit eine absichtliche divide et impera Strategie der Kolonialisten“.12 Auch die Ovambo wären beteiligt gewesen, indem sie sofort das deutsche Fort in Namutoni angegriffen hätten, während andere verhinderten hätten, dass die portugiesischen Kolonialisten in Angola den Deutschen zu Hilfe eilen konnten. Ebenso hätten die nördlichen Gruppen eine Zufuhr an Waffen und Munition an die Herero ermöglicht und Herero Flüchtlinge aufgenommen, während die Truppe des Widerstandskämpfers Jakob Marengo im Süden des Landes aus vielen Sprachgruppen bestand.
Doch lauter und vehementer sind die Stimmen, die den Begriff „Genozid“ im deutsch-namibischen Abkommen spezifisch auf die Nama und Herero beziehen. „You hear everyone in Namibia was affected, but the extermination order was to kill the Nama and Herero”, sagte die Herero sprechende Vize-Gesundheitsministerin Dr. Esther Utjiua Muinjangue während einer Video-Konferenz. „The intent was not to kill all, but to kill the Nama and Herero”.13
Die Genozid-Debatte hat daher einen hohen Preis. Auch in Namibia entsteht zurzeit ein immer stärkeres Gefühl von „denen“ und „uns“, verfestigt eine Gruppenidentität und bedroht den politischen und sozialen Frieden. Dabei hat das Thema Versöhnung und Vergebung auch eine religiöse Dimension. Es ist unverständlich, dass die Kirchen in Namibia, das sich immer wieder ein zutiefst christliches Land nennt, kaum Stellung dazu nehmen. Im Jahr 2004, als sich der Kolonialkrieg zum 100. Mal jährte, waren es ja gerade die Kirchen, die einen Versöhnungsprozess eingeleitet hatten. Im März 2004 sagte der damalige Bischof Dr Zephania Kameeta anlässlich eines ökumenischen Gedenkgottesdienstes: „In der Tat ist es ein Wunder Gottes, dass wir heute gemeinsam zurückschauen können auf die schrecklichen Dinge, die vor 100 Jahren geschehen sind, und dass wir dabei einander bei der Hand fassen und als Schwestern und Brüder der Zukunft entgegenblicken.“14
Von dieser Situation sind wir wieder weit entfernt. Als deutschsprachige Namibierin versuche ich zu verstehen, zu sprechen, zu fragen. Die Fragen sind: Kann der sehnliche und auch nachvollziehbare Wunsch der Nama und Herero nach Anerkennung des Genozids nur auf Kosten der Spaltung der namibischen Gesellschaft erfüllt werden? Und was würde es für ein Land wie Namibia in Zukunft bedeuten, wenn die Herero und Nama tatsächlich ihre Forderungen nach immens hohen Reparationszahlungen ausschließlich für ihre Gruppen durchsetzen würden? Wie kann es zu einem akzeptablen Abkommen zwischen Deutschland und Namibia kommen, wenn das ausgehandelte Abkommen von einem Teil der betroffenen Gruppen vehement und ohne Kompromissbereitschaft abgelehnt wird? Wie kann es zu Versöhnung und Vergebung kommen, wenn die Interpretationen der Vergangenheit so weit auseinanderklaffen? Wie kann man den tiefen Wunsch nach Anerkennung des Genozids zu einer gemeinsamen namibischen Aufgabe machen, auch wenn dabei die Nama und Herero besonders berücksichtigt werden müssen?
Wir müssen Antworten finden, denn ohne Versöhnung und ein nationales
Zusammengehörigkeitsgefühl kann eine Demokratie auf Dauer nicht bestehen.
Bücher von Erika von Wietersheim
Nachweise & Lesetipps
- 1 Bartholomäus Grill, „Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte“, S. 194. Siedler Verlag München, 2019.
- siehe auch: Unser kolonialer Blick – Ein Kommentar von Bartholomäus Grill
- Mit rassistischen Weltbildern kennt sich unser Autor aus – er hat lange als SPIEGEL-Korrespondent in Südafrika gelebt. Warum es so schwer ist, unsere eigenen Vorurteile und Verhaltensweisen zu überwinden.
- vn Bartholomäus Grill | SPON | 15.07.2020
- siehe auch: Der Herrscher mit der kalten Hand
- Robert Mugabe, der älteste Staatschef der Welt, wird 92 Jahre alt. Bartholomäus Grill über einen Mann, den er einst für eine Lichtgestalt hielt und der sich zum Verbrecher wandelte.
- von Bartholomäus Grill | SPON | 19.02.2016
- „…damals, als ich Robert Gabriel Mugabe noch bewundert habe. Er zählte Anfang der Achtzigerjahre zu meinen Helden des antikolonialen Befreiungskampfes, zu jenen Männern, die die europäische Fremdherrschaft überwanden und ihre Nationen in die Unabhängigkeit führten. Die nicht nur ihren Völkern Würde zurückgaben, sondern auch das Selbstbewusstsein der diskriminierten Schwarzen in aller Welt stärkten. Hinzu kam, dass Mugabe den Widerstand gegen das Apartheid-Regime in Südafrika anführte. Ich war wie viele davon überzeugt, dass er sein Land zu einem Entwicklungsmodell für Afrika machen würde – beflügelt von der Idee eines »demokratischen Sozialismus«. Mugabe war die Lichtgestalt eines geschundenen Kontinents. Heute halte ich ihn für einen Staatsverbrecher, und die Frage treibt mich um, wie man sich in einem Menschen derart täuschen kann. Wie es möglich war, dass der Hoffnungsträger zu einem brutalen Diktator mutierte, dessen Räuberregime das einst wohlhabende Simbabwe in den Abgrund gerissen hat. Die Wirtschaft ist zusammengebrochen, über 90 Prozent haben keine Arbeit. Drei bis vier Millionen – ein Viertel der Bevölkerung! – sind ins Ausland geflohen …“
- siehe auch: Unser kolonialer Blick – Ein Kommentar von Bartholomäus Grill
- 2 Dankesrede von Martin Walser zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11.Oktober 1998
- 3 ntv, 8. August 2021, Genozidgespräche mit Namibia „Aussöhnung ist uns Deutschnamibiern wichtig„
- 4 ntv, 8. August 2021, Genozidgespräche mit Namibia „Aussöhnung ist uns Deutschnamibiern wichtig„
- 5 ntv, 8. August 2021, Genozidgespräche mit Namibia „Aussöhnung ist uns Deutschnamibiern wichtig“
- 6 Mündliche Aussage während eines Gesprächs 7 Brigitte Lau in einem Brief an die Zeitung ‘The Namibian’: „The History of Land Possession“, Mai 1996 (siehe “This land is my land“, Erika von Wietersheim, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2021, S. 68)
- 7 Brigitte Lau in einem Brief an die Zeitung ‘The Namibian’: „The History of Land Possession“, Mai 1996 (siehe “This land is my land“, Erika von Wietersheim, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2021, S. 68)
- 8 Rede Landwirtschaftsminister Calle Schlettwein vor der Nationalversammlung, 14. Oktober 2021
- 9Sands, Philippe: Rückkehr nach Lemberg. „…über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine persönliche Geschichte, Frankfurt am Main 2019.
- 10 Sands: Rückkehr nach Lemberg, S. 372
- 11 Sands: Rückkehr nach Lemberg, S. 496
- 12 Whittaker, Shaun / Boesak, Harry: Lessons of the Namibian War 1904-1907, in: The Namibian, 8. Oktober 2021, S. 10.
- 13 Video-Konferenz auf Facebook
- 14 Erika von Wietersheim: „Lutherische Bischöfe erinnern an blutige Niederschlagung des Hereroaufstandes vor 100 Jahren. Namibia: Gemeinsam der trennenden Vergangenheit gedenken“. Windhoek (Namibia), 7. März 2004 (Lutheran World Information, Genf).
- Siehe auch: Namibias Kirchen und die Kolonialzeit Teil 2: Versöhnung mit Hindernissen
- Namibias evangelische Kirche ist gespalten in schwarz und weiß. Eine Folge der Kolonialzeit. Die Nachfahren der Herero und Nama vermissen echte Reue bei der weißen Schwesterkirche.
- von Birgit Morgenrath | Deutschlandfunk | 06.12.2018
- Siehe auch: Namibias Kirchen und die Kolonialzeit Teil 2: Versöhnung mit Hindernissen